Hier hängt die Geschichte Wiens, des Theaters, der Figuren und der Schauspiellegenden, die über die Jahre auf der Bühne zu sehen waren, in der Luft. Hier merkt man mehr als auf anderen Bühnen, was aus institutioneller Kreativität werden kann, wenn man sie nur lässt und ausreichend – auch finanziell – unterstützt.

Emotional und personenbezogen: Warum “die Burg” eine Bühne der Extraklasse ist

Man könnte das jetzt alles mit Zahlen belegen, den Geschäftsbericht des Burgtheaters durchkämmen und daraus Schlüsse ziehen, warum und wie dieses Theater ganz faktisch seine Relevanz hat. Genauso könnte man hier auch über die Probleme des Hauses schwadronieren, über den Finanzskandal unter dem Intendanten Hartmann oder über den Offenen Brief von sechzig Mitarbeitenden, in dem demselben Hartmann Machtmissbrauch vorgeworfen wurde. Oder man könnte auch allgemein über die Herausforderung schreiben, überhaupt noch Menschen ins Theater zu bekommen. Doch darum soll es hier aber nicht gehen. Hier soll es um die Menschen und die Magie auf der Bühne gehen; darum, warum es die Burg zu Burg geschafft hat. Weil Wien, so Sara Schausberger, Theaterkritikerin der Wiener Wochenzeitung „Der Falter“, „keine Stadt des Theaters, sondern eine Stadt der Schauspieler:innen ist“.

Obwohl das Burgtheater (natürlich) für „gutes, professionelles, hochwertiges Theater“ stehe, an dem „Regisseurinnen und Regisseure, die auch einen Namen haben“, klassische und moderne Stücke inszenieren, steht hier vor allem das Ensemble im Vordergrund, das eines der größten im deutschsprachigen Raum ist. Alles dreht sich um „den Ofczarek“ oder „die Hörbiger“. Österreichische Schauspiellegenden eben, die Rolle sei da oftmals nebensächlich. Genauso wie die Theaterkritiken.

Laut Mavie Hörbiger, die seit 2011/12 festes Ensemblemitglied am Burgtheater ist, ist es allseits in Wien bekannt, dass man „fünf Jahre braucht, bis man in den Köpfen der Zuschauenden angekommen ist; dann wollen sie einen aber auch nicht mehr gehen lassen“. Es geht um die Identifikation mit diesen Menschen. „Das sind unsere Schauspielenden. Die gehören zu unserer Stadt. Das ist unser Meyerhoff, und wenn der dann geht, ist das ein Bruch“, ergänzt Theaterkritikerin Sara Schausberger. Der deutsche Schauspieler und Bestsellerautor Joachim Meyerhoff wagte es, mit der Spielzeit 2019/20 an die Berliner Schaubühne zu wechseln, und ließ das heimische Publikum in Wien traurig zurück. Die Leerstelle, die die Linzerin Birgit Minichmayr, deren neue Filme „Andrea lässt sich scheiden“ und „Mit einem Tiger schlafen“ auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierten, hinterließ, als sie ein paar Jahre nicht an der Burg zu sehen war, fiel erst richtig auf, als sie tatsächlich nicht mehr da war. So ist das am Burgtheater, oder wie Hörbiger in einer Szene, die sich 2019 abgespielt hat, diesen Kult um die Menschen auf der Bühne gut zusammenfasst: „Peter Matić hätte am Tag seines Todes 2019 eine Vorstellung spielen sollen. Wir sind dann mit ‚Die Stühle‘ von Eugène Ionesco eingesprungen. In einer Szene hätte ich ‚Adieu, Papa‘ auf eine Tafel schreiben müssen. Ich habe ‚Adieu, Peter‘ geschrieben. Da ist das ganze Burgtheater aufgestanden und hat ihm applaudiert.“ Momente, die es nur am Theater gibt; vielleicht vor allem am Burgtheater.

Hier regieren wie in einem gefälligen Theaterstück auch die puren Emotionen und das Fallenlassen in Geschichten, die der Realität nahe kommen, bei denen aber klar ist, dass sie nie echt sein werden. Der bereits erwähnte Nicholas Ofczarek ist in Deutschland unter anderem durch seine Hauptrolle in der Erfolgsserie „Der Pass“ bekannt und gehört in Wien nach 29 Jahren im Burg-Ensemble sozusagen zum Inventar. Eines Abends während des von Bastian Kraft inszenierten „Mephisto“ hielt Ofczarek einen sehr intensiven Monolog. Plötzlich läutete im Saal ein Handy. Ofczarek ignorierte das Geräusch zuerst, bis ihm irgendwann der Kragen platzte und er laut zu schreien begann. Der Saal zuckte kollektiv zusammen. Er hielt einen Moment inne, um dann direkt da weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Auch so ist das am Burgtheater: Kollektiv zusammenzucken und sich über den Livemoment freuen ist noch intensiver in diesem unendlich hoch scheinenden Saal voller rotem Samt, schweren Stuhlreihen und mit einem Kristalllüster, der über allem schwebt.

Das Wiener Burgtheater ist ein Ehrenplatz für Künstler:innen unterschiedlichster Art

Die Faszination an der Burg fühlen aber nicht nur die Menschen vor der Bühne. Nein, spricht man mit denen, die am Burgtheater arbeiten, merkt man, welchen hohen Stellenwert das Theater auch für die auf, hinter, unter und über der Bühne hat. „Es ist ein Ritterschlag, wenn man gefragt wird, dort zu arbeiten. Gerade im jungen Alter“, sinniert die Berliner Kostümbildnerin Aino Laberenz, die seit 2004 immer wieder am Burgtheater arbeitet. Der Ruf eilt ihm einfach voraus. Das bestätigt auch der deutsche Schauspieler Langston Uibel, der gerade in einem von Barbara Frey inszenierten „Ein Sommernachtstraum“ als Demetrius zu sehen ist: „Selbst wenn ich Leuten, die nicht aus dem Theater oder dem Film kommen, sage, dass ich mein Theaterdebüt am Burgtheater geben konnte, hat das eine Bedeutung.“ Er wusste „nach der ersten Leseprobe, bevor ich das Haus überhaupt betreten hatte, dass ich ganz viel investieren muss, um hier zu überleben. Wenn man auf dieser Bühne steht vor Tausenden Leuten, sollte man sich davor überlegen, ob man was zu sagen hat. Auf dieser Bühne siehst du alles. Sie hat etwas Gnadenloses.“

Langston Uibel (l.) in einer Szene aus “Ein Sommernachtstraum” unter der Regie von Barbara Frey.

Matthias Horn

Seinen Ruf und seine Relevanz wird das Burgtheater auch in Zukunft behalten. Das kollektive Gedächtnis vergibt zu schnell und zu leicht, als dass sich daran etwas ändern würde, und dafür ist die Wiener Sensationslust auch zu groß. Viele Menschen hängen schlichtweg an dem Glanz, den Schauspielenden, die das Theater und sein Publikum zu Großen macht, und den guten und schlechten G’schichten. Mit der neuen Spielzeit übernimmt Stefan Bachmann, der vor Kurzem vom Schauspiel Köln nach Wien wechselte, die Führung des Hauses. Ob der für seinen zeitgenössischen Ansatz und die Gabe, neues Publikum ins Theater zu bekommen, bekannte Schweizer es schaffen wird, das Wiener Burgtheater und sein Publikum zu überzeugen, wird sich Stück für Stück zeigen. Der erste Schritt ist, die Burg mit allem Drum und Dran zu verstehen.

Dieser Artikel ist Teil unseres aktuellen VOGUE Austria Specials, das zusammen mit der Juni-Ausgabe erschien. Seit Samstag, 25. Mai, ist sie im stationären Zeitschriftenhandel oder online – zum Beispiel hier – erhältlich.

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