In einer Gesellschaft, die vor allem Frauen dazu anhält, sich unauffällig zu verhalten und Emotionen zu kontrollieren, ist Schreien ein Privileg – Autorin Lisa Ludwig erklärt, warum sich das ändern muss.

Müsste ich ein Bedürfnis nennen, welches das Menschsein der letzten Jahre auf den Punkt bringt, so wäre es der Wunsch, laut zu schreien. Der Schrei bündelt das Negative, macht es unüberhörbar und entlässt es in einem unvergleichlich befreienden Akt aus dem Körper. Er dient als Ventil für einen emotionalen Zustand, der sich nicht mehr in Worte fassen lässt.

Edvard Munchs „Der Schrei“ ist eines der bekanntesten Kunstmotive überhaupt und ziert unzählige Alltagsgegenstände – von Kaffeetassen bis OP-Hauben. Schreiszenen aus Filmen und Serien werden regelmäßig zu Memes. Videos unter dem Hashtag #femalerage haben auf TikTok fast zwei Milliarden Aufrufe. Schreien scheint also ein allgemeines Bedürfnis zu sein, es ist „relatable“, Menschen sympathisieren damit. Schreien, davon bin ich überzeugt, würde diesen psychosomatischen Knoten in meiner Brust lösen, der sich seit Jahren immer fester zusammenzieht. Nichts besser machen, aber etwas von dem Druck ablassen, der mein Hirn langsam, aber sicher zum Überkochen bringt. Doch ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal laut geschrien habe.

Die Orte zum gesellschaftlich akzeptierten Schreien sind begrenzt

In den 1970er-Jahren wurde die sogenannte Urschreitherapie des US-amerikanischen Psycho-
logen Arthur Janov populär. Zu den prominenten Fans gehörten Ikonen wie John Lennon und
Yoko Ono. Die Therapieform wird auch heute noch praktiziert, ist allerdings umstritten. Denn:
Bisher konnte nicht nachgewiesen werden, dass Schreien eine positive Auswirkung auf die mentale Gesundheit hat. Zumindest dann nicht, wenn man aus Wut oder Frustration schreit.
Sehr wahrscheinlich gibt es zielführendere Wege, Stress und Anspannung abzubauen. Meditation, Sport, diese Sandkistchen, in denen Erwachsene mit winzigen Harken so tun, als hätten sie einen Garten. Aber ich möchte kein Zen. Ich möchte schreien. So lange und laut, bis meine Adern hervortreten, mein Trommelfell klingelt und es sich anfühlt, als könnte meine wunde Kehle die ganze Welt verschlingen.

Meine unwissenschaftliche Theorie ist: Schreien ist der ultimative Akt der Auflehnung in einer Gesellschaft, die uns direkt nach dem ersten Geburtsschrei eintrichtert, so still und angenehm wie nur möglich zu sein. Deswegen fühlt es sich so monumental an. Deswegen fällt es aber auch so schwer. Wer in der Öffentlichkeit ohne erkenntlichen oder für andere nachvollziehbaren Grund zu schreien anfängt, ist deswegen maximal nervig oder sogar beunruhigend. Die Art von Person, bei der Eltern ihre Kinder weiterzerren und ihnen gepresst „Guck nicht zu der komischen Frau hin!“ zuflüstern. Schreien geht in der Öffentlichkeit nur da, wo Kontrollverlust kulturell verankert ist. Bei kollektiven Besäufnissen wie dem Oktoberfest oder Faschingsumzügen zum Beispiel. Auch Fußballstadien sind gute Orte, um sich gesellschaftlich akzeptiert die Seele aus dem Leib zu brüllen.

Wer darauf keine Lust hat, dem bleibt Schreien im Privaten. Doch auch das ist gar nicht so einfach. Denn in Deutschland ist Ruhestörung eine Ordnungswidrigkeit, die unser Verhalten auch innerhalb der eigenen vier Wände kontrolliert. Wer schreit, riskiert passiv-aggressiv die Polizei rufende Nachbar:innen und ein Bußgeld. Schreien ohne Negativfolgen geht im Privaten nur an Orten, die sowohl räumlich als auch akustisch von der Umwelt abgeschirmt sind: ein Auto zum Beispiel oder ein frei stehendes Haus. Alternativ kann man sich zeitlich begrenzt in Rage-, Crash- oder Ausrasträume einbuchen, um sich danach wieder schön zusammenzureißen und zu funktionieren. Wer sich das nicht leisten kann, hat Pech. Das macht Schreien zu einem priviligierten Akt, allerdings nicht nur auf monetärer Ebene.

Männer dürfen zornig brüllen, Frauen nur hysterisch kreischen

Das „Wall Street Journal“ kam 2017 zu der Erkenntnis, dass in englischsprachigen Romanen andere Worte für laute Männer genutzt werden als für laute Frauen. Die US-Zeitung spricht von einem „clear gender divide“, also einer deutlichen Kluft zwischen den Geschlechtern. Im deutschsprachigen Raum dürfte es sich ähnlich verhalten. Und weil Kultur immer in Wechselwirkung steht mit der Gesellschaft, in der sie entsteht, verhält sich das nicht nur in Romanen so, sondern auch im gelebten Alltag.

Weiblich oder queer gelesene Personen schreien nicht, sie kreischen. Das ist negativ konnotiert, denn kreischen gilt als peinlich, übertrieben emotional und der Situation nicht angemessen, als hysterisch. Eine Bezeichnung mit beeindruckend sexistischer Geschichte übrigens, schlagen Sie das gern mal nach. „Als Frauen ist es uns normalerweise nicht erlaubt, Emotionen wie einen Schrei rauszulassen. Deswegen neigen wir dazu, alles zu unterdrücken und in uns einzusperren“, sagte die kanadische Künstlerin Mary Abdel-Malek Neil 2023 gegenüber CBC News. Deswegen trifft sie sich einmal im Monat mit anderen Frauen zum Schreien. Ich teile diesen Eindruck: Jahrelang wurde mir vermittelt, meine Wut und Frustration nicht rauslassen zu dürfen. Bis ich es verlernte.

Männlich gelesene Personen hingegen brüllen und zeigen damit keine Angst, sondern gerechten Zorn. Sie beweisen Dominanz und Stärke, wie Bären oder Löwen. Man hat Angst vor ihnen oder nimmt sie zumindest ernst. Möchte ich deswegen so gern schreien? Damit Leute mich und meine maßlose Überforderung mit der geopolitischen Weltlage ernst nehmen? Als Frau zu schreien und damit Aufmerksamkeit und Respekt einzufordern, vielleicht sogar Angst in all jenen auszulösen, die sich in der Regel verächtlich über einen stellen – das kann etwas Emanzipatorisches haben. Allein darin liegt schon eine gewisse Befreiung.

Schreien als emanzipatorischer Akt

„Der Schrei“ von Edvard Munch besteht eigentlich aus fünf Werken, entstanden über einen Zeitraum von 17 Jahren und mit verschiedenen Techniken. Das Motiv ist aber immer das gleiche: ein entgleistes Gesicht, irgendwo zwischen Panik und Entsetzen. In seinen Gemälden verarbeitete der Maler eine Angstattacke, die er bei einem Spaziergang erlebte. Sein offener Umgang mit den eigenen Emotionen und schweren Momenten machten Munch als Künstler unsterblich. Mir hat die Fratze aus „Der Schrei“ schon immer besser gefallen als die amüsiert-unbeeindruckt lächelnde Mona Lisa, der alles scheißegal zu sein scheint.

Vielleicht sind die Komischen nicht die, die auf der Straße anfangen zu schreien; vielleicht sind es die, die es nicht tun. Deswegen nehme ich mir vor, mehr „Der Schrei“ als „Mona Lisa“ zu sein und zumindest einmal laut zu brüllen und Druck abzulassen. Natürlich im Rahmen der gesetzlich zulässigen Dezibelgrenzen. Wir sind hier schließlich immer noch in Deutschland.

Dieser Artikel ist Teil der VOGUE-Ausgabe für März 2024, die jetzt im (Online-)Handel erhältlich ist – zum Beispiel über Amazon.

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