Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben…
Sie müssen etwas lauter sprechen. Mein Hörgerät funktioniert nicht mehr so gut. Aber mein Kopf funktioniert. Körperlich habe ich natürlich Probleme. Ich habe furchtbar abgenommen, bin nur noch Haut und Knochen. Aber, ich bin zufrieden.
[Behutsam setzt sie sich auf ihr Sofa. „Hier“, sagt sie, „hier richten wir uns ein.“ Grau-silbernes Haar, keine 1,60 Meter groß, 102 Jahre Leben. Auf dem Tisch gestapelte Zeitungen: Die Zeit, die Süddeutsche, den Tagesspiegel, die New York Times. Die lese sie am liebsten.]
Frau Friedländer, es sind keine guten Zeiten. Jetzt, wo es offiziell ist, dass hochrangige AfD-Politiker:innen und Neonazis einen Masterplan für die Vertreibung von marginalisierten Menschen aus Deutschland planen. Wieder spricht eine demokratisch gewählte Partei von „völkischen Visionen“, von Deportation. Was empfinden Sie als Holocaust-Überlebende, wenn Sie das hören? Woran denken Sie zuerst?
[Sie blickt lange nach oben. Das wird sie während unseres 90-minütigen Gesprächs immer wieder tun. Sie scheint nach den richtigen Worten zu suchen, formuliert sorgfältig.]
Dazu möchte ich Folgendes sagen. Ich bin 1921 geboren, ich war zwölf Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Ich habe meine ganze Familie verloren. Ich weiß genau, wie es damals angefangen hat. Ich bin entsetzt, dass ich das heute erleben muss. Ich sage denen, was ich immer gesagt habe: Seid Menschen. Menschen tun so etwas nicht.
[Margot Friedländer wurde als deutsche Jüdin in Berlin geboren. Während des Zweiten Weltkriegs tauchte sie unter, versteckte sich monatelang bei einer christlichen Familie in der Fasanenstraße, färbte sich die Haare, ließ sich die Nase operieren, trug eine Kette mit einem Kreuz, nur um nicht als „Jüdin“ aufzufallen. Noch am Tag ihres Untertauchens habe sie sich den Judenstern von der Kleidung gerissen, sagte sie einmal dem Spiegel. Es half nichts. Bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm wurde sie entdeckt und im Juni 1944 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Nur knapp entging sie dem Tod durch den nationalsozialistischen Terror.]
Es ist bemerkenswert, dass gerade Sie die Stimme sind, die zur Versöhnung aufruft. Was macht das mit Ihnen?
Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten. Ich habe 64 Jahre lang in Amerika gelebt. Ich habe die Politik nach Hitler nicht verfolgt. Wie man hier oder in anderen Ländern versucht hat, eine Demokratie aufzubauen. Wir wissen sehr wohl, dass es Länder gibt, deren Regierungen antisemitisch sind. Wo Menschen, die Kinder in die Welt setzen, die Kinder schon so erziehen, dass sie antisemitisch denken. Es gibt immer Antisemiten! Period.
[Ein Jahr nach der Befreiung aus dem KZ Theresienstadt emigrierte sie mit ihrem Mann Adolf Friedländer nach New York, auch um die Vergangenheit, über die sie nicht sprechen konnten, hinter sich zu lassen. Er arbeitete in einem jüdischen Kulturzentrum, sie zunächst als Schneiderin, später in einem Reisebüro. Die Friedländers lebten zurückgezogen. 1997 starb ihr Mann Adolf, der Gedanke an eine Rückkehr nach Berlin, in das Land der Täter:innen, wurde immer stärker. 2010 entschied sie sich für einen Neuanfang. Mit 88 Jahren. Ab und zu mischen sich englische Worte in ihre Antworten.]