Klassiker gehören in jede Garderobe – oder?
Ich finde, zur modischen Evolution gehören Fehlkäufe einfach dazu. Natürlich wäre es wünschenswert, immer alles richtig gemacht zu haben – auch in finanzieller Hinsicht. Aber schlussendlich sind es genau die rückblickend unvorstellbaren, teuren und unnötigen Modeexperimente, die das Konzept unseres eigentlichen Stils verfestigen. Dieses Prinzip gilt übrigens nicht nur für Textilien. Welche Haarfarben hatten Sie denn so als Teenie? Und welche tragen Sie heute? Irgendwann stellt man fest, dass Grün, Blau und Rosa aus gutem Grund nicht auf dem Kopf einer breiteren erwachsenen Bevölkerung zu sehen sind. Nun stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, in allen konsumbeladenen Aspekten unseres Lebens ausschließlich zu Klassikern zu greifen. Solide Entscheidungen eben, die Generationen und Trends überdauern, gleichzeitig auch so anpassungsfähig sind, dass die meisten mit ihnen etwas anfangen können. Ich sage: Nein.
„Du hast so viel Geld für diese ikonische Tasche gezahlt, du musst sie jetzt auch mal benutzen“
Denn abgesehen davon, dass wir in einem fürchterlich monochromen Alltag gefangen wären, in dem wir alle mit demselben Haarschnitt im identischen Look auf der gleichen Markencouch sitzen würden, würden wir alle zeitnah feststellen, dass Klassiker zwar Massen abdecken, aber man darin auch untergehen kann. Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel: Als ich mir vor einigen Jahren eine bestimmte Tasche eines Luxuslabels kaufte, war meine Motivation, endlich mal in einen dieser viel gehuldigten Klassiker zu investieren. Das war für mich finanziell vernünftig (stabile Wiederverkaufspreise für den Notfall), aber auch stilistisch ein Gewinn. Endlich konnte ich diese scheinbare Lücke im eigenen Kleiderschrank füllen. Als Modefan muss man dieses Modell einfach besitzen, dachte ich. Auf diese Annahme folgte schnell die Ernüchterung, als ich merkte, dass ich die Tasche zwar mag: aber nur sehr selten trage. Und fast jedes Mal, wenn ich sie trage, ist der Auslöser meine innere Stimme, die mir sagt: Du hast so viel Geld für diese ikonische Tasche gezahlt, du musst sie jetzt auch mal benutzen. Soll heißen: Ich habe mich vom Renommee eines Klassikers so blenden lassen, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, meinen Bedarf tatsächlich abzufragen.
„Denn die Tatsache, dass ich kein Teenager mehr bin, resultiert nicht automatisch in der Schlussfolgerung, dass ich meinen Geschmack für alle Tage besiegelt habe“
Mittlerweile weiß ich, dass ich diese Tasche gar nicht bräuchte. Ich bereue es dennoch nicht, sie gekauft zu haben, und ab und zu trage ich sie auch. Aber der Kosten-Nutzen-Faktor steht in keinem vernünftigen Verhältnis. Auch wenn viele sich nach diesem Modell die Finger lecken würden, sie mir anscheinend auch steht (zumindest laut meinem Umfeld) und zu meinem Stil passt, hätte ich das Geld sinnvoller für etwas anderes ausgeben können. Vielleicht auch absichtlich nicht für einen sicheren Klassiker, sondern ein weiteres Modeexperiment in meinem Leben. Denn die Tatsache, dass ich kein Teenager mehr bin, resultiert nicht automatisch in der Schlussfolgerung, dass ich meinen Geschmack für alle Tage besiegelt habe. Andernfalls müsste man das vollständige System der Mode infrage stellen. Keine Fashion Week, keine Designer:innenwechsel, kein Modemagazin der Welt hätte eine Daseinsberechtigung mehr, wenn wir alle nur noch das tragen würden, was bekannt und bewährt ist.
Sollten Sie also beim nächsten Einkaufsbummel auf einen Klassiker stoßen, der Ihnen gefällt, fragen Sie sich, ob Sie ihn auch kaufen wollen würden, wenn er nicht weltbekannt wäre. Falls Sie nur die Geschichte dahinter fasziniert, lassen Sie die Finger davon. Im Zweifel ist es eine bessere Idee, etwas Neues auszuprobieren. Jedes Risiko beinhaltet schließlich eine Chance. Und vielleicht starten Sie damit unwissentlich die Karriere eines Klassikers-to-be und inspirieren mich, Ihnen in zehn Jahren mit dem gleichen Kauf zu folgen.
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