Kunstjournalistin Leonie Pfennig über das magische Gefühl, wenn ein Werk sie tief bewegt
Keine 30 Sekunden verweilen Museumsbesuchende im Durchschnitt vor einem Bild. Wenn es gut läuft, 48 Sekunden. Nicht gerade viel Zeit, um ein Kunstwerk zu sehen, verstehen, einordnen zu können. Ich muss gestehen: Ich selbst bleibe meist noch kürzer stehen. Mein Blick scannt den Raum, bleibt hier und da hängen, ich entscheide schnell, wo ich genauer hinschaue und wo nicht. Seit gut 20 Jahren gehe ich beruflich in Ausstellungen, früher als Studentin, dann später im Zuge meiner Arbeit in Galerien und Museen oder als Kritikerin. Mit der Zeit habe ich gelernt, gute von schlechten Ausstellungen zu unterscheiden, langweilige Kunst von aufregender, zu ambitionierte Projekte von feinfühligen. Ich habe einen Geschmack und Vorlieben entwickelt. Während ich am Anfang in Uniseminaren und bei Streifzügen durch Museen und Kirchen auf Städtetrips ziemlich leicht zu begeistern war, alles aufsog und jeden Ausstellungstext aufhob, wurden die Momente mit den Jahren immer weniger, in denen ein Kunstwerk etwas in mir auslöste, ein aufregendes Kribbeln durch meinen Körper fuhr, weil etwas so anders oder bewegend war oder Kunst mich ratlos und betroffen stehen ließ. Wenn diese Momente aber passieren, bleiben sie tief im Gedächtnis.
Über Farben, die tanzen und Bilder, die lebendig werden
Noch Jahre später kann ich nachempfinden, wie ich mich fühlte, als ich das erste Mal im Dia Beacon war, einem Museum im Umland New Yorks, das sich der eher spröden Minimal Art verschrieben hat. Es war ein Wochentag im Winter, ich war fast alleine in den riesigen Hallen des ehemaligen Fabrikgebäudes. Sonnenstrahlen fielen durch die Oberlichter auf den knarzenden Dielenboden, und ich war zutiefst fasziniert von der Weitläufigkeit, den Blickachsen, dem Licht, aber vor allem von der Kunst. Die kleinen Farbkombinationen von Blinky Palermo, die ich aus dem Studium kannte, aber nie in echt oder als ganze Serie gesehen hatte, schienen fast zu schweben, die Farben tanzten von Bild zu Bild und wurden geradezu lebendig – niemals hätte ein Katalogbild oder ein Foto im Internet dieses Gefühl ausgelöst. Beschwingt ging ich weiter in die nächsten Räume, nur um immer weiter zu staunen. Alle Künstler:innen der Sammlung kannte ich, die meisten Objekte in der Theorie auch, aber die Originale zu sehen, ihre Anordnung, das Zusammenspiel der Werke untereinander und die Zeit, die ich dort alleine mit ihnen verbringen durfte, war magisch. Habe ich es vermisst, ins Museum zu gehen, als es zu Pandemiezeiten verboten war? Nicht so sehr wie Treffen mit Freund:innen und spontanes Ausgehen. Doch als die ersten Ausstellungen wieder eröffneten, fühlte es sich an wie ein tiefes Einatmen, neue frische Luft, die in meinen Körper strömte.
Bei Konzerten, Theaterstücken oder in der Oper entsteht eine besondere Energie, weil viele Menschen gemeinsam etwas erleben. In der Kunst kann eine solche Energie alleine und im Zwiegespräch zwischen dem Menschen und einem Werk im Raum entstehen.
Im Bann der Kunst – das Gefühl, wenn man nicht mehr wegschauen kann
Mir passieren diese einprägsamen Begegnungen mit der Kunst meistens auf Reisen. Vielleicht, weil ich dann besonders offen und aufnahmefähig bin, nichts erwarte oder mich anders treiben lasse. Als ich 2018 die große Ausstellung der schwedischen Malerin Hilma af Klint im Guggenheim Museum in New York sehen konnte, wollte ich gar nicht mehr gehen. Damals wurde sie gerade wiederentdeckt; einzelne Bilder hingen zwar in Gruppenausstellungen, aber diese Fülle, diese Farben, diese rätselhaften, mystischen Formen, das war bisher ungesehen. Es war wie eine Sucht: Noch ein Bild und noch eins … und obwohl ich mich mit viel zu vielen anderen Besucher:innen daran vorbeischob, war ich völlig absorbiert.
Das Gefühl ist schwer zu beschreiben. Erst ist es ein Wohlgefühl, eine Ruhe oder Harmonie, die sich wie eine warme, weiche Decke um einen legt. Dann ist da diese Neugier, die dazu führt, dass man immer mehr davon möchte, gemischt mit der Faszination für das Andersartige, nie Gesehene, das man nicht versteht, aber ergründen möchte. Was bedeutet dieses Zeichen wohl? Wie hat die Künstlerin gearbeitet? Was hat sie selbst vor ihren Bildern empfunden? Für wen waren sie gedacht? Ich erinnere mich an das freudige, wohlige Gefühl, mit dem ich das Museum wieder verließ. Dankbar, diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen, sie mit nach Hause nehmen zu können wie ein kostbares Souvenir.
Vor einigen Jahren hatte ich am Ende einer beruflichen Reise nach Amsterdam noch zwei Stunden Zeit. Ich verbrachte sie im Stedelijk Museum. Da war in einem kleinen abgedunkelten Raum dieses Video von Rory Pilgrim, einem jungen britischen Künstler, der mir damals kein Begriff war. Leider teilen die meisten Videoarbeiten das Schicksal, bei Ausstellungsbesuchen oft nicht die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber dieses Video ließ mich nicht mehr los. Pilgrim hat eine Gruppe junger Klimaaktivist:innen in Idaho begleitet, die sich dem großen Thema Klimakrise ganz persönlich nähern. Sie befinden sich in einem verwunschenen Haus oder streifen durch die Landschaft und bilden eine unglaublich rührende Gemeinschaft, obwohl sie sich vor dem Projekt nicht kannten. Formen von Zusammenhalt, Sprache, Heimat und Zuhause spielen eine Rolle, alles ist sinnlich unterlegt von einem Streichquartett. Und dann ist da diese Stimme. Eine junge Frau sitzt auf einem Küchentisch und beginnt zu singen – über ihre Gefühle, die Erde und die Natur. Ohne Kitsch, ehrlich und zum Weinen schön. Ich weiß nicht, wie lange ich davor sitzen blieb, der Film dauerte 50 Minuten, aber anschließend brauchte ich noch einige Zeit, bis ich aus dem Kosmos wieder auftauchen konnte. Als neulich ein Druck von Rory Pilgrim als Jahresgabe im Düsseldorfer Kunstverein angeboten wurde, musste ich sofort zuschlagen. Geld, das ich sonst in einen Urlaub investiert hätte. Nun hängt dieses zarte Bild in meiner Wohnung und lässt mich jedes Mal an diesen besonderen Moment denken, alleine mit Rory Pilgrim und seiner berührenden Gemeinschaft.
Leonie Pfennig ist Kunsthistorikerin, lebt als freie Autorin und Journalistin in Köln und schreibt über zeitgenössische Kunst- und Kulturthemen.