Das erste Buch, dass ich geschenkt bekommen habe, war ein Kinderbuch über einen Hasen, es war auf Deutsch. Ich habe es geliebt und ab diesem Moment ein Buch nach dem anderen verschlungen. Durch das viele Lesen (und Fernsehen) konnten meine Deutschkenntnisse im Laufe der Grundschule mit denen meiner deutschen Klassenkamerad:innen mithalten. Am letzten Schultag der Grundschule wurde ich von meiner Rektorin mit einem Ehrenpreis für meine sehr gute Deutschnote ausgezeichnet, sie verlieh sie mir vor der ganzen Schule mit den Worten: „So eine bemerkenswerte Leistung, obwohl du nicht Deutsch bist! Wow!“ Meine Wangen glühten, ich wusste nicht, ob aus Stolz oder Scham.
Im Gymnasium zeichnete sich hingegen klar ab, was ich für meine Muttersprache empfand: Scham. Ich konnte es nicht ertragen, wenn mich jemand aufgrund meines Namens aufforderte, etwas Türkisches zu sagen; oder wenn jemand aus der Klasse zum Spaß türkische Schimpfwörter grölte oder meine Deutschlehrer:innen immer wieder betonten, wie toll meine Texte seien – „trotz meiner Migrationsgeschichte“. Lange Zeit habe ich meine türkische Sprache verkümmern lassen und habe nur mit meiner Mutter Türkisch gesprochen (meine Geschwister sprechen ebenfalls nur Deutsch). Ich habe auf Deutsch geschrieben, auf Deutsch gedacht.
Doch was heißt es eigentlich, die eigene Muttersprache zu verstoßen? Rückblickend fühlt es sich für mich so an, als hätte ich meine Herkunft und meine Identität verleugnet. Denn ob ich es wollte oder nicht, die türkische Sprache ist als meine Muttersprache ein Teil von mir.
Majdalin Hilmi: „Wenn du deine Sprache verlierst, verlierst du deine Identität“
Inzwischen bestätigen Kognitions- und Sprachwissenschaftler:innen die Entscheidung meiner Mutter, mich als Kind auf Türkisch zu erziehen: Sie raten Migrant:innen ihren Kindern erst die Muttersprache zu lehren, statt die „neue“ Sprache. Gila Hoppenstedt vom German Institute for Immersive Learning (GIFIL) begründet das damit, dass die Muttersprache der Schlüssel für die zweite Sprache sei. Die erste Sprache forme kognitive Voraussetzungen, um Inhalte zu verstehen und zu verarbeiten. Deswegen schlägt sie vor, an Kitas mit vielen Migra-Kindern mehrere Erzieher:innen einzusetzen, die Deutsch und die jeweiligen Fremdsprachen, beispielsweise Türkisch, beherrschen.
Neben der Sprachfähigkeit prägt die Muttersprache auch einen großen Teil unserer kulturellen Identität, lässt uns unser Selbst mit Worten ausbilden und das Leben und die Entscheidungen unserer Familie besser verstehen. Es ist nichts Neues, dass Migra-Kinder sehr oft im Laufe ihres Lebens an ihrer Person zweifeln, sich zwischen mehreren Kulturen hin- und hergerissen fühlen und lange brauchen, um eine gefestigte Identität auszubilden, mit der sie auch zufrieden sind. Schließlich bekommen wir von unserer Familie nicht selten andere Werte und Ideale vorgelegt, als die, die unsere Freund:innen in der „neuen“ und „fremden“ Umgebung haben. Die Sprache trägt einen großen Teil zu dieser Entwicklung bei. „Wenn du deine Sprache verlierst, verlierst du deine Identität“, sagte Majdalin Hilmi bereits 2016 in einer DRadio Wissen-Reportage.
Wie ich den Spaß und das Interesse an meiner Muttersprache wiedergefunden habe
„Türkisch lernt man nicht. Türkisch verlernt man“, schreibt Kübra Gümüşay in ihrem Buch „Sprache und Sein“. Ich habe in meinem Leben ziemlich viel Türkisch verlernt, aber gerade noch rechtzeitig die Kurve bekommen. Ab meinem 20. Lebensjahr wandelte sich meine Haltung: Ich wollte diesen Teil meines Selbst nicht länger verleugnen, sondern ihn anerkennen und trainieren. Da Sprache einen großen Teil dazu beiträgt, habe ich mich entschieden mein Türkisch besser zu pflegen. Ich habe türkische Musik für mich entdeckt, türkische Serien lieben gelernt und einen Türkischkurs während der Uni besucht. Fun Fact: Tatsächlich war ich nicht die einzige türkische Person in diesem Kurs.
Das Lesen und Schreiben auf Türkisch fällt mir heute noch schwer, aber das Sprechen läuft inzwischen fließend. Wenn ich andere türkischstämmige Menschen treffe, dann fühlen wir uns durch die gemeinsame Sprache verbunden. Türkisch ist inzwischen für mich mehr als die Sprache meiner Eltern, es ist ein vielfältiges Verständnis für die Welt, eine Sprache, die mit „aşk“ (Liebe) das osmanische Arabisch in sich trägt, die jedoch auch das französische „defile“ (Modenschau, Parade) kennt und das griechische „bacanak“ (Brautbruder, Kumpel) gebraucht – auch das habe ich im Türkischkurs gelernt. Das Wichtigste dabei ist für mich: Ich schäme mich nicht mehr für Türkisch. Wenn mich jemand fragt, ob ich Türkisch spreche, bejahe ich das mit einem Grinsen und erzähle gerne etwas in meiner Muttersprache.
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